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Zwangsbehandlungen bei Patientenverfügung im Maßregelvollzug

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8.6.2021 – 2 BvR 1866/17, 2 BvR 1314/18

Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Verfassungsbeschwerden teilweise stattgegeben, die sich gegen gerichtliche Entscheidungen richteten, mit denen die Einwilligung in eine medizinische Zwangsbehandlung des Beschwerdeführers in der einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie im anschließenden Maßregelvollzug erteilt wurde (Az.: 2 BvR 1866/17, 2 BvR 1314/18).

 

Beschwerdeführer schloss Zwangsbehandlung schriftlich aus

Der im Maßregelvollzug untergebrachte Beschwerdeführer wurde auf Antrag des behandelnden Bezirkskrankenhauses wiederholt medizinisch zwangsbehandelt. Zuvor hatte er schriftlich in einer „Patientenverfügung“ niedergelegt, nicht mit Neuroleptika behandelt werden zu wollen. Das für das Strafverfahren zuständige Landgericht erteilte dennoch die Einwilligung zur Behandlung. Die eingelegte Beschwerde wies das Oberlandesgericht als unbegründet zurück.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) und seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Mittelbar richten sich die Verfassungsbeschwerden gegen die die Zwangsbehandlung betreffende Regelung des Art. 6 Abs. 3 bis 6 BayMRVG a. F.

 

Grundgesetz schützt „Freiheit zur Krankheit“

Das Bundesverfassungsgericht entschied nun, dass die der Zwangsbehandlung zugrundeliegenden fachgerichtlichen Beschlüsse einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standhalten. Die Fachgerichte hätten bei der Auslegung und Anwendung der landesrechtlichen Vorschriften die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unzureichend Rechnung getragen.

Eine Zwangsbehandlung zum Schutz der Grundrechte der untergebrachten Person selbst könne nicht gerechtfertigt werden, wenn diese sie im Zustand der Einsichtsfähigkeit wirksam ausgeschlossen hat. Die grundgesetzlich geschützte „Freiheit zur Krankheit“ schließe das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind und deren Unterlassen zum dauerhaften Verlust der persönlichen Freiheit führen kann.

 

Zweistufige Prüfung der Patientenverfügung nötig

Die Fachgerichte hätten die Erklärung des Beschwerdeführers zwar als wirksame Patientenverfügung im Sinne von § 1901a BGB angesehen. Dabei hätten sie es allerdings versäumt, zuvor im Wege einer zweistufigen Überprüfung der Erklärung festzustellen, ob der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung einsichtsfähig gewesen ist und ob deren Inhalt die konkrete Behandlungssituation im Maßregelvollzug umfasst.

Obwohl sie von einer wirksamen Patientenverfügung ausgingen, haben die Gerichte die Erklärung vom 11. Januar 2015 hinter der staatlichen Pflicht zum Schutz der Gesundheit des Beschwerdeführers und insbesondere zur Herstellung seiner Entlassungsfähigkeit zurücktreten lassen, ohne zu ermessen, inwieweit die Schutzpflicht ihre Grenzen in dessen Selbstbestimmungsrecht als Patient findet. Die Gerichte haben demgemäß auch nicht auf Rechte Dritter abgestellt, die in der Maßregelvollzugsanstalt womöglich tätlichen Angriffen durch den Beschwerdeführer ausgesetzt wären und deren Schutz einen Eingriff in dessen Grundrechte rechtfertigen könnte. Die Frage, ob die Zwangsbehandlung vorliegend zum Schutz anderer Personen nach Art. 6 Abs. 6 BayMRVG a. F. gerechtfertigt war, ist einer verfassungsgerichtlichen Prüfung somit nicht zugänglich,

so das Gericht. Die Beschlüsse wurden aufgehoben und zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Mehr zum Sachverhalt bzw. zu den wesentlichen Erwägungen des BVerfG erfahren Sie in der offiziellen Pressemitteilung Nr. 66/2021 des Bundesverfassungsgerichts vom 8.6.2021.

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