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Verlagerung der Verpflichtung zur Erfüllung des Anspruchs auf Kinderbetreuung

Kommunalverfassungsbeschwerde im Wesentlichen erfolglos

Es verstößt nicht gegen Art. 28 Abs. 2 GG, dass der sachsen-anhaltinische Gesetzgeber im Jahre 2013 Landkreise und kreisfreie Städte statt der zuvor zuständigen Gemeinden zu Verpflichteten des Anspruchs auf Kinderbetreuung bestimmt hat. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 21.11.2017 (Az. 2 BvR 2177/16) entschieden. Ein mit der Änderung möglicherweise verbundener Eingriff in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie ist jedenfalls gerechtfertigt, weil die gesetzliche Neuregelung von sachlichen Erwägungen getragen und die mit ihr einhergehende Beschneidung des gemeindlichen Aufgabenbestandes gering ist. Bei verfassungskonformer Auslegung der angegriffenen Regelung verbleiben den Gemeinden umfangreiche Zuständigkeiten im Bereich der Kinderbetreuung. Soweit das Schutzniveau der kommunalen Selbstveraltungsgarantie nach dem Landesverfassungs-recht hinter den Gewährleistungen des Grundgesetzes zurückbleibt, gilt die Subsidiarität der kommunalen Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nicht für das Land Sachsen-Anhalt.

Gemeinden sahen einen verfassungswidrigen Entzug der Aufgaben

Im Jahre 2013 hat der Gesetzgeber das Kinderbetreuungsrecht in Sachsen-Anhalt neu geordnet. Die Neuregelung im Kinderförderungsgesetz Sachsen-Anhalt (KiFöG LSA) betraf im Wesentlichen

  • die Verlagerung der seit 2003 die Gemeinden treffenden Leistungsverpflichtung zur Bereitstellung von Plätzen in der Tageseinrichtung auf Landkreise und kreisfreie Städte als örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe,
  • die Einführung von Qualitätsstandards,
  • die Finanzierung der Kinderbetreuung.

Anlass für die Änderung war ein befürchteter Interessenkonflikt bei den Gemeinden. Dieser sollte sich daraus ergeben, dass die Gemeinden sowohl Verpflichtete des Betreuungsanspruchs waren als auch selbst Betreuungsplätze anboten, so dass sich Gemeinden und freie Träger als Wettbewerber gegenüberstanden.

Die Beschwerdeführerinnen sind acht kreisangehörige Gemeinden im Land Sachsen-Anhalt, die nach alter Rechtslage Verpflichtete des Anspruchs auf Kinderbetreuung waren. Sie sehen in der gesetzlichen Neuregelung einen verfassungswidrigen Entzug der Aufgaben und machen insoweit eine Verletzung von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geltend. 2014 hatten sie zusammen mit über 50 anderen Gemeinden eine Kommunalverfassungsbeschwerde zum Verfassungsgericht Sachsen-Anhalt erhoben. Mit dieser griffen sie mehrere Vorschriften des Änderungsgesetzes zum Kinderförderungsgesetz und anderer Gesetze an. Sie rügten zudem eine Verletzung der durch die Landesverfassung gewährleisteten Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. Die Verfassungsbeschwerde hatte hinsichtlich einer die Aufgabenfinanzierung betreffenden Bestimmung Erfolg; im Übrigen wurde sie zurückgewiesen, da es bereits an einem Eingriff in ein durch die Landesverfassung gewährleistetes Recht der Gemeinden fehle.

Kommunalverfassungsbeschwerde zulässig

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die gegen die Neuregelung vor dem Bundesverfassungsgericht erhobene Kommunalverfassungsbeschwerde zulässig ist. Sie bleibe in der Sache nur auf der Grundlage einer verfassungskonformen Auslegung ohne Erfolg. Es begründete seine Entscheidung folgendermaßen:

1. Grundsatz der Subsidiarität steht der Zulässigkeit nicht entgegen

Der Zulässigkeit stehe insbesondere nicht der Grundsatz der Subsidiarität der Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG, § 91 Bundesverfassungsgerichtsgesetz entgegen. Die in Art. 28 Abs. 2 GG verankerte Garantie kommunaler Selbstverwaltung enthalte alle staatliche Gewalt bindende Vorgaben. Zu diesen gehöre unter anderem ein verfassungsrechtliches Aufgabenverteilungsprinzip zugunsten der Gemeinden, das auch und gerade gegenüber den Landkreisen Anwendung finde.

Das Landesrecht dürfe keine Regelungen enthalten, die mit Art. 28 Abs. 2 GG nicht vereinbar sind. Soweit das Landesverfassungsrecht keinen vergleichbaren Schutz der gemeindlichen Selbstverwaltung enthält, weil die landesverfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung hinter dem Gewährleistungsniveau des Art. 28 Abs. 2 GG zurückbleibt, greife das Subsidiaritätserfordernis der Kommunalverfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nicht.

2. Eingriff in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie durch sachliche Gründe gerechtfertigt

Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG konstituiere ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, wonach der Gesetzgeber den Gemeinden örtliche Aufgaben nur aus Gründen des Gemeinwohls entziehen dürfe. Das bloße Ziel der Verwaltungsvereinfachung oder der Zuständigkeitskonzentration scheide als Rechtfertigung eines Aufgabenentzugs aus. Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung rechtfertigten eine Hochzonung erst, wenn ein Belassen der Aufgabe bei den Gemeinden zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen würde.

Die Übertragung der Leistungsverpflichtung zur Erfüllung des Anspruchs auf Kinderbetreuung auf die Landkreise und kreisfreien Städte als örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe genüge unter Anlegung dieses Maßstabs nur dann den Anforderungen des Art. 28 Abs. 2 GG, wenn das Recht der Gemeinden unberührt bleibe, sich aufgrund ihrer Allzuständigkeit der örtlichen Aufgabe der Kinderbetreuung und insbesondere der damit zusammenhängenden Planungs- und Koordinierungsaufgaben für ihr Gemeindegebiet anzunehmen.

a) Die von den Gemeinden bis zur Neuregelung im Jahr 2013 wahrgenommenen Aufgaben beträfen Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft und fielen somit in den Gewährleistungsbereich des Art. 28 Abs. 2 GG. Im Jahr 2003 hatte der Gesetzgeber einen Teilbereich der von den örtlichen Trägern der Jugendhilfe wahrzunehmenden Aufgaben in zulässiger Weise auf die Gemeinden übertragen. Es sprächen gute Gründe dafür, dass die nunmehr vorgenommene Auswechslung des Leistungsverpflichteten und die damit verbundene Übertragung der mit der Erfüllung des Anspruchs auf einen Betreuungsplatz zusammenhängenden Verwaltungsaufgaben eine Hochzonung von Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft und damit einen Eingriff in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie darstellten. Den Gemeinden würde nicht nur die Leistungsverpflichtung zur Erfüllung des Anspruchs auf Kinderbetreuung entzogen, sondern auch die damit zusammenhängende Finanzverantwortung für die Errichtung, den Betrieb und die Unterhaltung der in ihrem Gemeindegebiet vorhandenen oder aus Bedarfsgründen zusätzlich erforderlichen Kindertagesstätten.

b) Der Eingriff wäre aber jedenfalls durch sachliche Gründe gerechtfertigt und - bei verfassungs-konformer Auslegung - auch verhältnismäßig.

aa) Die gesetzliche Regelung werde durch hinreichende sachliche Gründe getragen. Die Übertragung der Leistungsverpflichtung solle

  • der Stärkung der staatlichen Jugendämter,
  • einer kontinuierlichen Qualitätsentwicklung
  • der Zusammenführung der haftungsbewehrten Gewährleistungspflicht zur Bereitstellung eines Kinderbetreuungsplatzes mit der landesrechtlichen Verpflichtung zur Erfüllung des Anspruchs auf Kinderbetreuung

und damit legitimen Zwecken dienen.

bb) Bei verfassungskonformer Auslegung genüge die angegriffene Regelung auch den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Sie lasse den Gemeinden das Recht zur Mikroplanung und beziehe sie darüber hinaus auch in Zukunft in die Bedarfsplanung ein.

(1) Die Allzuständigkeit erlaube den kreisangehörigen Gemeinden auch im Bereich der Jugendhilfe einzelne Aufgaben freiwillig zu übernehmen, solange diese nicht zum ausschließlichen gesetzlichen Aufgabenfeld der staatlichen Jugendämter gehörten. Ausgehend davon seien die kreisangehörigen Gemeinden nach der KiFöG-Reform des Jahres 2013 weiterhin für eine Reihe von Aufgaben im Rahmen der Kinderbetreuung zuständig. So könnten sie mit entsprechender Betriebserlaubnis Kindertageseinrichtungen in eigener Trägerschaft errichten, finanzieren und betreiben. Den Gemeinden stehe ferner das Recht zu, für ihr Gemeindegebiet den Betreuungsbedarf zu planen und zu koordinieren, ohne hierzu verpflichtet zu sein. Ihnen stehe es deshalb insbesondere offen,

  • lokale Kinderbetreuungsleitplanungen zu erstellen und fortzuschreiben,
  • hierzu die demographische Entwicklung im Gemeindegebiet zu analysieren,
  • das Platzangebot konzeptionell zu planen
  • mit den in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen freien Trägern von Kindertageseinrichtungen zusammenzuarbeiten.

Ebenso stehe den Gemeinden ein Recht zur Kooperation mit Nachbargemeinden zu, um einen möglicherweise bestehenden gemeindeübergreifenden Betreuungsbedarf festzustellen und freiwillig abzudecken. Innerhalb ihres Gemeindegebiets sei es den Kommunen zudem möglich, die örtlich ansässigen freien Träger zu unterstützen. Im Gegensatz zur früheren Gesetzeslage seien die Gemeinden hierzu allerdings nicht mehr objektiv-rechtlich verpflichtet. Den Gemeinden stehe es ferner frei, für ihr Gebiet statistische Erhebungen durchzuführen, soweit diese für die Bereitstellung von Betreuungsplätzen und die konzeptionelle Planung des Betreuungsangebots erforderlich seien.

(2) Soweit Aufgabenbereiche auf die örtlichen Träger der Jugendhilfe übertragen würden, blieben die Interessen der Gemeinden zudem weitgehend gewahrt. Dies betreffe insbesondere die Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen, die zwischen den örtlichen Trägern der Jugendhilfe und den Trägern von Tageseinrichtungen geschlossen werden. Für deren Zustandekommen sei ein Einvernehmen der Gemeinden, Verbandsgemeinden und Verwaltungsgemeinschaften erforderlich. Damit sei gesetzlich gesichert, dass ohne Beteiligung der kreisangehörigen Gemeinden keine neuen Tageseinrichtungen im Gemeindegebiet betrieben werden können. Dies sichere die aus der Allzuständigkeit fließende Befugnis der Kommunen, in ihrem Gemeindegebiet eigene Kindertagesstätten zu errichten, zu betreiben und zu finanzieren. Ferner sei im Hinblick auf die überörtliche Kinderbetreuungsplanung, die keine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft sei, sondern deren „Mikroplanung“ lediglich beeinflusse, eine Beteiligung der Gemeinden über das Benehmenserfordernis des § 10 Abs. 1 Satz 2 und 3 KiFöG LSA 2013 gesichert. Dieses ermögliche den Gemeinden,

  • ihren Standpunkt darzulegen,
  • Einwände im Hinblick auf die von ihnen vertretenen Interessen zu erheben.
  • so auf das Ergebnis der Entscheidung Einfluss zu nehmen.

 

Quelle: Pressemitteilung Nr. 100/2017 des Bundesverfassungsgerichts vom 21.11.2017

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