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Teil-Entzug des Sorgerechts wegen schulischer Überforderung nicht verfassungswidrig

Bundesverfassungsgericht, Beschluss v. 14.9.2021 – 1 BvR 1525/20

Ein Familiengericht entzog einer Mutter unter anderem das Recht zur Regelung schulischer Belange sowie der Gesundheitssorge für ihre Tochter, weil es das körperliche und seelische Wohl der Tochter aufgrund schulischer Überforderung nachhaltig gefährdet sah. Eine hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde durch die Mutter und ihre Tochter, die vor allem eine Verletzung von Grundrechten aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG sowie bei der Tochter ihres Grundrechts aus Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG geltend machten, hat das Bundesverfassungsgericht mit gestern veröffentlichtem Beschluss nicht angenommen (Az. 1 BvR 1525/20).

 

Mutter übte enormen Leistungsdruck aus

Bei der beschwerdeführenden Tochter wurde in mehreren Testungen ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen festgestellt. Gegen den Rat der Fachkräfte meldete die Mutter ihre Tochter zunächst auf einem Gymnasium an. Anschließend besuchte sie eine Realschule Plus, an der sie täglich drei Stunden beschult wurde. An beiden Schulen kam es zu erheblichen Konflikten mit Lehrern und Mitschülern. Auf Initiative des Jugendamtes wurde ein Sorgerechtsverfahren eingeleitet, in dem das Familiengericht im Januar 2020 der Mutter unter anderem das Recht zur Regelung schulischer Belange ihrer Tochter entzog.

Die dagegen gerichtete Beschwerde der Mutter wies das OLG zurück. Das Familiengericht habe zu Recht angenommen, dass das körperliche und seelische Wohl der Tochter aufgrund eines Versagens ihrer Mutter nachhaltig gefährdet sei. Weniger eingriffsintensive Maßnahmen als der Teilentzug des Sorgerechts seien nicht geeignet, die Gefahr für das Kindeswohl abzuwenden. Die Mutter übe trotz stetiger gegenteiliger Ratschläge aller Fachkräfte einen derart enormen Leistungsdruck auf ihre Tochter aus, dass diese permanent überfordert, traurig, verzweifelt und ohne jegliche Lebenslust sei; sie habe bereits Suizidgedanken geäußert. Mitunter komme es auch zu körperlichen Übergriffen der Mutter auf ihre Tochter. Bei schlechten Noten äußere die Tochter in der Schule Ängste vor ihrer Mutter, etwa vor Schimpfen oder auch Schlägen.

An der Lage der Tochter habe sich gegenüber der Situation in einem bereits im Jahr 2018 geführten einstweiligen Anordnungsverfahrens zum Sorgerecht, nichts geändert. Die Mutter habe sich nach der langjährigen Erfahrung der beteiligten Fachkräfte nicht bereit oder in der Lage gezeigt, eigene Vorstellungen zu überdenken oder andere als die eigene Sichtweise anzuerkennen. Die angebotenen Hilfestellungen habe die Mutter allesamt abgelehnt oder abgebrochen.

 

Keine Verletzung des Elternrechts

Das BVerfG führte aus, dass eine Verletzung des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) der Mutter anhand der Begründung der Verfassungsbeschwerde und der dazu vorgelegten Unterlagen nicht erkennbar ist. Die Würdigung des OLG sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es leite die Kindeswohlgefährdung nicht aus vorhandenen Einschränkungen der Tochter her. Vielmehr sehe das OLG die Ursachen dafür im Verhalten der Mutter, die ihrer Tochter die benötigte Unterstützung und Förderung nicht zu teil werden lasse. Sie stelle Anforderungen an ihre Tochter, die diese permanent überforderten.

Die so begründete Annahme einer Kindeswohlgefährdung im Sinne von § 1666 Abs. 1 BGB verletze das Recht der Mutter aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG selbst dann nicht, wenn bei der Bedeutung des Elternrechts und staatlichen Eingriffen ein möglicher individueller Anspruch der Tochter auf eine inklusive Beschulung zu berücksichtigen wäre. Ob ein solcher Anspruch nach Art. 24 BRK bestehen kann, bedürfe keiner Entscheidung. Jedenfalls könne aus Art. 24 BRK nicht der Schluss gezogen werden, das Familiengericht dürfe bei einer Sorgerechtsentscheidung nach § 1666 BGB schwere Belastungen des Kindes mit Behinderung ungeachtet der Umstände des Einzelfalls dann nicht berücksichtigen, wenn diese Belastungen damit verbunden sind, wie die Eltern die elterliche Sorge in Schulangelegenheiten ihres Kindes ausüben und was sie von ihrem Kind und von der Schule im Rahmen inklusiver Beschulung verlangen. Weder gebiete das Völkerrecht ein derartiges Verständnis des Familienrechts noch wäre es so mit Verfassungsrecht vereinbar.

 

Keine Benachteiligung wegen einer Behinderung

Es könne zudem dahinstehen, ob in dem Entzug von Teilen des Sorgerechts der Mutter mittelbar eine Benachteiligung ihrer Tochter wegen einer Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) liege. Selbst wenn die teilweise Entziehung des Sorgerechts deshalb strengeren Anforderungen unterliegen sollte, könnte ein Verfassungsverstoß hier nicht festgestellt werden. Der Beschluss des OLG hielte aber auch einer strengen verfassungsrechtlichen Prüfung in verfahrensrechtlicher und materiellrechtlicher Hinsicht stand.

Die vollständige Begründung des BVerfG lesen Sie in der Pressemitteilung Nr. 88/2021 vom 14.10.2021.

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