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Keine Nachtarbeit für stillende Mutter

EuGH, Urteil v. 19.9.2018 in der Rs. C-41/17

Schwangere Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillende Arbeitnehmerinnen, die Schichtarbeit verrichten, die zum Teil in den Nachtstunden stattfindet, sind als Nachtarbeit leistend anzusehen und fallen unter den besonderen Schutz gegen die Risiken, die diese Arbeit beinhalten kann. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union am 19.9.2018 in der Rechtssache C-41/17.

 

Kein Attest für stillende Sicherheitsbedienstete

Frau G. C. ist als Sicherheitsbedienstete bei P.E. beschäftigt. Im November 2014 brachte sie einen Jungen zur Welt, den sie stillte. Seit März 2015 geht sie ihrer Tätigkeit in variablen achtstündigen Wechselschichten, von denen ein Teil in den Nachstunden liegt, in einem Einkaufszentrum nach. Frau G. C. wollte erreichen, dass ihr Arbeitsverhältnis ruht und ihr die nach spanischem Recht vorgesehene Geldleistung wegen Risiken während der Stillzeit gewährt wird. Zu diesem Zweck beantragte sie bei M. U. (eine private Berufsgenossenschaft ohne Gewinnerzielungsabsicht, bei der die Berufsrisiken versichert sind), ihr ein ärztliches Attest über das Vorliegen eines ihrem Arbeitsplatz innewohnenden Risikos für die Stillzeit auszustellen. Nachdem ihr Antrag ablehnt worden war, legte Frau G. C. Widerspruch ein, der zurückgewiesen wurde. Daraufhin erhob sie gegen diese Zurückweisung Klage beim Tribunal Superior de Justicia de Galicia (Obergericht Galizien, Spanien).

Die Richtlinie 92/85 über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen bestimmt u. a., dass diese Arbeitnehmerinnen während ihrer Schwangerschaft und einem bestimmten Zeitraum nach der Entbindung nicht zu Nachtarbeit verpflichtet werden dürfen. Dies gilt unter dem Vorbehalt, dass die Mutter ein ärztliches Attest vorlegt, in dem die entsprechende Notwendigkeit im Hinblick auf ihre Sicherheit und ihren Gesundheitsschutz bestätigt wird. Die Richtlinie 2006/54 über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sieht ihrerseits eine Beweislastumkehr vor. So obliegt es dann, wenn Personen, die sich durch die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert halten und bei einem Gericht bzw. einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, dem Beklagten, zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat.

 

Spanisches Gericht legt EuGH Fragen vor

In diesem Zusammenhang hat das Tribunal Superior de Justicia de Galicia beschlossen, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Es stellt sich zum einen die Frage, wie der Begriff „Nachtarbeit“ im Sinne der Richtlinie 92/85 auszulegen ist, wenn Nachtarbeit mit Schichtarbeit kombiniert wird. Zum anderen sei die Beurteilung der Risiken, die der Arbeitsplatz von Frau González Castro beinhalte, möglicherweise nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden und es liege in Wirklichkeit ein Risiko für ihre Gesundheit oder ihre Sicherheit vor. Daher fragt sich das Gericht, ob in diesem Zusammenhang die in der Richtlinie 2006/54 vorgesehenen Regeln über die Beweislastumkehr Anwendung finden.

Sollte dies bejaht werden, möchte das vorlegende Gericht weiter wissen, ob der Nachweis dafür, dass die Umgestaltung der Arbeitsbedingungen oder ein Arbeitsplatzwechsel der betroffenen Arbeitnehmerin technisch oder sachlich nicht möglich oder nicht zumutbar ist, der betroffenen Arbeitnehmerin oder dem Beklagten, entweder dem Arbeitgeber oder der Einrichtung, die für die Zahlung der Geldleistung wegen Risiken während der Stillzeit verantwortlich ist, obliegt.

 

Schutz für stillende Arbeitnehmerinnen gewährleisten

Mit seinem Urteil vom 19.9.2018 entscheidet der EuGH erstens, dass die Richtlinie 92/85 auf eine Situation Anwendung findet, in der die betroffene Arbeitnehmerin Schichtarbeit leistet, in deren Rahmen sie ihre Arbeit nur zum Teil während der Nachtzeit verrichtet. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Richtlinie keine nähere Angabe zur genauen Tragweite des Begriffs „Nachtarbeit“ enthält. Er weist darauf hin, dass sich aus den allgemeinen Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 über die Arbeitszeitgestaltung Folgendes ergibt: Eine Arbeitnehmerin, die Schichtarbeit leistet, in deren Rahmen sie ihre Arbeit nur zum Teil während der Nachtzeit verrichtet, ist als während der „Nachtzeit“ arbeitend anzusehen und daher als „Nachtarbeiter“ einzustufen.

Die besonderen Bestimmungen der Richtlinie 92/85 dürften weder ungünstiger ausgelegt werden als die allgemeinen Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 noch entgegen den Zielsetzungen der Richtlinie 92/85 interpretiert werden. Diese bestehen darin, den Schutz für schwangere Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillende Arbeitnehmerinnen zu verstärken. Damit der betroffenen Arbeitnehmerin dieser Schutz im Rahmen der Nachtarbeit zuteilwird, müsse sie ein ärztliches Attest vorlegen, in dem die entsprechende Notwendigkeit im Hinblick auf ihre Sicherheit und den Schutz ihrer Gesundheit bestätigt wird. Es ist Sache des Tribunal Superior de Justicia de Galicia, zu prüfen, ob dies vorliegend der Fall ist.

 

Unmittelbare Diskriminierung liegt vor

Zweitens entscheidet der Gerichtshof, dass die in der Richtlinie 2006/54 vorgesehenen Regeln über die Umkehr der Beweislast auf eine Situation wie die von Frau G. C. Anwendung finden. Dies gilt dann, wenn die betroffene Arbeitnehmerin Tatsachen vorbringt, die vermuten lassen, dass die Beurteilung der Risiken, die ihr Arbeitsplatz beinhaltet, keine spezifische Prüfung unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situation umfasst hat. Dieses ließe daher den Schluss auf das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne dieser Richtlinie zu.

Schwangere Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillende Arbeitnehmerinnen, die Nacharbeit verrichten, genießen nach der Richtlinie 92/85 einen verstärkten Schutz gegen das besondere Risiko, das eine solche Arbeit beinhalten kann. Die Beurteilung der Risiken des Arbeitsplatzes dieser Arbeitnehmerinnen kann daher, so der EuGH, nicht weniger strengen Anforderungen unterliegen als denen, die im Rahmen der in dieser Richtlinie geschaffenen allgemeinen Regelung gelten. In dieser sei niedergelegt, welche Maßnahmen in Bezug auf alle Tätigkeiten zu ergreifen sind, bei denen ein spezifisches Risiko für diese Arbeitnehmerinnen bestehen kann. Diese Beurteilung muss eine spezifische Prüfung unter Berücksichtigung der individuellen Situation der betroffenen Arbeitnehmerin umfassen. So könne ermittelt werden, ob ihre Gesundheit oder Sicherheit oder die Gesundheit oder Sicherheit ihres Kindes einem Risiko ausgesetzt sind.

Anderenfalls würde eine Frau im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Mutterschaftsurlaub im Sinne der Richtlinie 92/85 ungünstiger behandelt; dies würde eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne der Richtlinie 2006/54 darstellen, was die Umkehr der Beweislast zulässt. Der Gerichtshof führt aus, dass die Risikobeurteilung des Arbeitsplatzes von Frau G. C. dem Anschein nach keine solche Prüfung umfasst hat und die Betroffene offenbar diskriminiert worden ist. Es ist Sache des Tribunal Superior de Justicia de Galicia zu prüfen, ob dies tatsächlich der Fall ist. Sollte dies bejaht werden, obliegt es dem Beklagten, das Gegenteil zu beweisen.

 

Quelle: Pressemitteilung des Gerichtshofes der Europäischen Union Nr. 134/18 vom 19.9.2018

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