Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 11.9.2019 – 1 C 48.18
Art. 10 VO (EU) 492/2011 (ArbeitnehmerfreizügigkeitsVO) vermittele Kindern, die in Deutschland die Schule besuchen, und ihren Eltern ein Freizügigkeitsrecht i.S. des § 2 I Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU), das einer Verlustfeststellung nach § 5 IV FreizügG/EU entgegenstehe. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 11.9.2019 entschieden.
Mutter ging vorübergehend keiner Beschäftigung mehr nach
Die Klägerin zu 1 und ihre beiden Töchter, die Klägerinnen zu 2 und 3, sind polnische Staatsangehörige. Sie reisten im Februar 2009 in das Bundesgebiet ein. Von Ende Mai 2012 bis Ende März 2013 ging die Klägerin zu 1 einer Beschäftigung nach. In der Folge wurden ihr und ihren Kindern, die staatliche Schulen im Bundesgebiet besuchten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bewilligt. Im Juni 2013 stellte die beklagte Ausländerbehörde den Verlust des Rechts der Klägerinnen auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland fest.
Nach Aufnahme einer Beschäftigung im August 2013 wurde an der Verlustfeststellung nur noch für den Zeitraum von Juni bis August 2013 festgehalten. Das Verwaltungsgericht hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerinnen hat das Oberverwaltungsgericht die Verlustfeststellung auch insoweit aufgehoben. Die Klägerinnen zu 2 und 3 seien als Kinder einer Wanderarbeitnehmerin auch in dem streitigen Zeitraum freizügigkeitsberechtigt gewesen. Der Klägerin zu 1 habe als für ihre Kinder sorgendem Elternteil ein von diesem Aufenthaltsrecht ihrer Töchter abgeleitetes Aufenthaltsrecht zugestanden.
Verlustfeststellung war auf jeden Fall rechtswidrig
Der 1. Revisionssenat des BVerwG hat die Entscheidung des Berufungsgerichts im Ergebnis mit einer alternativen Begründung bestätigt:
Werde davon ausgegangen, dass die Verlustfeststellung nach § 5 IV S. 1 FreizügG/EU nicht in einzelne Zeitabschnitte teilbar sei, könne sie grundsätzlich insgesamt keinen Bestand mehr haben, wenn der betroffene Unionsbürger oder sein Familienangehöriger im Verlauf des Verfahrens (neuerlich) freizügigkeitsberechtigt wird und die Behörde die Verlustfeststellung nur noch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum aufrechterhält.
Werde hingegen von einer zeitlichen Teilbarkeit der Verlustfeststellung und damit einer zeitabschnittsweisen Betrachtung ausgegangen, so wäre die verbliebene Verlustfeststellung ebenfalls rechtswidrig. Denn die Klägerinnen wären auch seinerzeit freizügigkeitsberechtigt i.S. des FreizügG/EU gewesen. Gemäß Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 könnten die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Dies vermittele ihnen und - hiervon abgeleitet - auch ihren tatsächlich die Personensorge ausübenden Eltern ein Aufenthaltsrecht.
Aufenthaltszeiten, die allein auf der Grundlage des Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 zurückgelegt würden, ohne dass die für die Inanspruchnahme eines Aufenthaltsrechts nach der sogenannten Unionsbürger-Richtlinie (RL 2004/38/EG) vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt waren, könnten zwar nicht für die Zwecke eines Daueraufenthaltsrechts i.S. des § 4a FreizügG/EU berücksichtigt werden. Jedoch vermitteltem sie den Kindern eines Wanderarbeitnehmers und dem Elternteil, der die tatsächliche Sorge für diese ausübt, Freizügigkeit im Sinne des § 2 I FreizügG/EU in dem Aufnahmemitgliedstaat des (vormaligen) Wanderarbeitnehmers, so dass eine Verlustfeststellung nach § 5 IV S. 1 FreizügG/EU ausscheide.
Vorinstanzen:
OVG Bautzen, Urteil v. 25.10.2018 - 3 A 736/16
VG Dresden, Urteil v. 18.8.2016 - 3 K 3320/14
Quelle: Pressemitteilung Nr. 61/2019 des BVerwG v. 11.9.2019