Bundesverfassungsgericht, Beschluss v. 3.4.2019 – 1 BvR 2556/17
Wenn über einen Internetanschluss eine Urheberrechtsverletzung begangen wurde und die Anschlussinhaber angeben müssen, welcher Familienangehörige diese begangen hat, verletzt es diese nicht in ihrem Grundrecht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 6 Abs. 1 GG. Dies hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts am 3.4.2019 beschlossen. Sie hat damit die Verfassungsbeschwerde eines Elternpaares gegen eine Verurteilung zu Schadensersatz und Erstattung von Abmahnkosten nicht zur Entscheidung angenommen.
Musikalbum auf Filesharing-Plattform angeboten
Die Beschwerdeführer sind als Ehepaar gemeinsame Inhaber eines Internetanschlusses. Über den Anschluss wurde ein Musikalbum in einer Internet-„Tauschbörse“ zum Herunterladen angeboten. Der Klägerin des Ausgangsverfahrens stehen die Verwertungsrechte an den betroffenen Musiktiteln zu. Die Beschwerdeführer gaben auf die Abmahnung der Klägerin eine Unterlassungsverpflichtungserklärung ab, verweigerten aber die Zahlung von Schadensersatz und Rechtsanwaltskosten.
Sie selbst hätten ihren Anschluss während der maßgeblichen Zeit nicht genutzt; sie wüssten zwar, dass eines ihrer Kinder den Anschluss genutzt hätte, wollten aber nicht offenbaren, welches. Das LG verurteilte sie zur Zahlung von Schadensersatz und Erstattung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten wegen Urheberrechtsverletzung. Berufung und Revision blieben in der Sache erfolglos.
Schutz des Art. 14 GG kommt erhebliches Gewicht zu
Die Auslegung der entscheidungserheblichen Normen - § 97 Abs. 2 Satz 1, § 85 Abs. 1 UrhG in Verbindung mit § 138 ZPO - durch den BGH und durch die Instanzgerichte verletze nicht das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 GG. Zwar liege ein Eingriff in dessen Schutzbereich vor, der die Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt und auch das Verhältnis zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern umfasst. Familienmitglieder seien danach berechtigt, ihre Gemeinschaft in familiärer Verantwortlichkeit und Rücksicht frei zu gestalten. Allerdings sei diese Beeinträchtigung gerechtfertigt. Dem Schutz des Art. 14 GG, auf den sich die Klägerin als Rechteinhaberin berufen kann, komme in Abwägung der widerstreitenden Grundrechtsgüter im Streitfall ebenfalls ein erhebliches Gewicht zu.
Die Fachgerichte seien bei Abwägung der Belange des Eigentumsschutzes mit den Belangen des Familienschutzes den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht geworden. Nach der Entscheidung des BGH müssen die Beschwerdeführer zur Entkräftung der Vermutung für ihre Täterschaft als Anschlussinhaber ihre Kenntnisse über die Umstände einer eventuellen Verletzungshandlung mitteilen. Zudem müssen sie aufdecken, welches ihrer Kinder die Verletzungshandlung begangen hat, sofern sie davon Kenntnis erlangt haben. Diese Abwägung trage dem Erfordernis praktischer Konkordanz ausreichend Rechnung und halte sich jedenfalls im Rahmen des fachgerichtlichen Wertungsrahmens. Die Ausstrahlungswirkung der von den Entscheidungen berührten Grundrechte sei bei der Auslegung von § 138 ZPO hinreichend beachtet.
Risiko einer ungünstigen Tatsachenwürdigung
Zwar kenne das Zivilprozessrecht einen Schutz vor Selbstbezichtigungen und es fände die Wahrheitspflicht einer Partei dort ihre Grenzen, wo sie gezwungen wäre, etwa eine von ihr begangene strafbare Handlung zu offenbaren. Entsprechendes dürfe gelten, wenn es um Belastungen von nahen Angehörigen geht. Den grundrechtlich gegen einen Zwang zur Selbstbezichtigung geschützten Prozessparteien und Verfahrensbeteiligten könne dann aber das Risiko einer für sie ungünstigen Tatsachenwürdigung auferlegt werden. Ein weitergehender Schutz sei verfassungsrechtlich nicht geboten. Vielmehr sei auch der gerichtlichen Durchsetzung von Grundrechtspositionen - hier dem nach Art. 14 GG geschützten Leistungsschutzrecht des Rechteinhabers aus § 85 Abs. 1 Satz 1 UrhG - angemessen Rechnung zu tragen.
Rechteinhaber hätten zur Durchsetzung ihrer Rechte in Filesharing-Verfahren regelmäßig keine Möglichkeit, zu Umständen aus dem ihrem Einblick vollständig entzogenen Bereich der Internetnutzung durch den Anschlussinhaber vorzutragen oder Beweis zu führen. Zugunsten der Klägerin berücksichtige der BGH damit deren Interesse an einer effektiven Durchsetzung ihrer urheberrechtlichen Position gegenüber unberechtigten Verwertungshandlungen. Die Beeinträchtigung der familiären Beziehungen der Beschwerdeführer halte er dabei in Grenzen, so die Ansicht des BVerfG. Denn Familienangehörige müssten sich nicht gegenseitig belasten, wenn der konkret Handelnde nicht ermittelbar ist. Vielmehr würden sie nur das Risiko einer für sie ungünstigen Tatsachenwürdigung tragen, wenn sie die Darlegungs- und Beweisanforderungen nicht erfüllen.
Kein automatischer Haftungsausschluss wegen Zusammenlebens
Die Möglichkeit, innerfamiliäre Spannungen und Verhältnisse durch Schweigen im Prozess zu verhindern oder jedenfalls nicht nach außen tragen zu müssen, führe umgekehrt nicht dazu, dass dieses Schweigen eine Haftung generell - also ohne prozessuale Folgen - ausschließen müsste. Die zur Wahrung von Art. 6 GG gewährte faktische „Wahlmöglichkeit“ im Zivilprozess, innerfamiliäres Wissen zu offenbaren oder aber zu schweigen, könne bei der Tatsachenwürdigung keinen Vorrang vor der Durchsetzung des Art. 14 GG unterfallenden Leistungsschutzrechts beanspruchen. Der Schutz der Familie diene nicht dazu, sich aus taktischen Erwägungen der eigenen Haftung für die Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums zu entziehen.
Der bloße Umstand, mit anderen Familienmitgliedern zusammenzuleben, führe nicht automatisch zum Haftungsausschluss für den Anschlussinhaber. Soweit die Beschwerdeführer geltend machen, es gebe bessere und im Verhältnis zu der Zivilrechtsprechung in ähnlich gelagerten Fällen konsistentere Lösungen für den Ausgleich zwischen den Rechtspositionen der Inhaber geistiger Eigentumsrechte und deren Nutzern, falle dies verfassungsrechtlich nicht ins Gewicht. Ob es darüber hinaus gerechtfertigt wäre, dem Anschlussinhaber auch Nachforschungs- oder Nachfragepflichten aufzuerlegen, hätte keiner Entscheidung bedurft.
Unionsrechtliche Anforderung erfüllt
Aus den europäischen Grundrechten ergebe sich nichts anderes. Insbesondere stehe das Recht der Europäischen Union nicht schon der Anwendbarkeit der Grundrechte des Grundgesetzes entgegen. Denn soweit das Unionsrecht nicht abschließend zwingende Vorgaben macht, blieben die Grundrechte des Grundgesetzes anwendbar. In dem Rahmen, in dem den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume belassen sind, seien die Fachgerichte folglich auch im Anwendungsbereich der Urheberrechtsrichtlinie und der Durchsetzungsrichtlinie an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden. Dies sei für die Durchsetzung der urheberrechtlichen Ansprüche nach Maßgabe des nicht harmonisierten Zivilverfahrensrechts der Fall. Die Rechtsprechung des BGH bildet die unionsrechtlichen Anforderungen zutreffend ab.
Siehe auch:
Filesharing: Haftung des Internetanschluss-Inhabers für Familienmitglieder - EuGH, Urteil v. 18.10.2018 – Rs. C-149/17
Filesharing über Familieninternetanschluss - Bundesgerichtshof, Pressemitteilung Nr. 046/2017 vom 30.03.2017
Quelle: Pressemitteilung Nr. 25/2019 des Bundesverfassungsgerichts vom 3.4.2019