Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 2016
Bei der Ermittlung der Bedürftigkeit für die Gewährung existenzsichernder Leistungen unabhängig von einem Unterhaltsanspruch darf das Einkommen und Vermögen eines anderen Familienangehörigen berücksichtigt werden – dies entschied das Bundesverfassungsgericht am 27.07.2016 (AZ 1 BvR 371/11). Voraussetzung sei, dass die Familienangehörigen in familiärer Gemeinschaft zusammenleben und zumutbar angenommen werden könne, dass sie „aus einem Topf“ wirtschaften. Allerdings könne nicht in die Bedarfsgemeinschaft einbezogen werden, wer tatsächlich nicht unterstützt werde.
Klage von Bundessozialgericht abgewiesen
Der Beschwerdeführer lebte mit seinem Vater zusammen, der eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezog. Der Träger der Grundsicherungsleistung bewilligte dem Beschwerdeführer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Arbeitslosengeld II) in verringerter Höhe. Dies begründete er damit, dass der Beschwerdeführer mit seinem Vater in einer Bedarfsgemeinschaft lebe, weshalb nur 80% der Regelleistung anzusetzen sei. Die Rente seines Vaters müsse zumindest teilweise bei der Berechnung des Anspruchs des Beschwerdeführers bedarfsmindernd berücksichtigt werden.
Das Sozialgericht wies die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage des Beschwerdeführers und seines Vaters ab; Berufung und Revision waren erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Er beanstandet zudem, dass die von seinem Vater bezogene Erwerbsunfähigkeitsrente teilweise bei der Berechnung der Höhe seiner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes bedarfsmindernd berücksichtigt wurde – obwohl er gegen seinen Vater keinen durchsetzbaren Unterhaltsanspruch hat.
BVerfG weist Verfassungsbeschwerde zurück
Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerde zurück. Es legte seiner Entscheidung folgende Erwägungen zugrunde:
Faktische wirtschaftliche Verhältnisse sind maßgebend
Der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstrecke sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Dabei habe der Gesetzgeber einen Entscheidungsspielraum bei der wertenden Einschätzung des notwendigen Bedarfs. Bei der Ermittlung der Bedürftigkeit könne daher grundsätzlich auch das Einkommen und Vermögen von Personen einbezogen werden, von denen ein gegenseitiges Einstehen erwartet werden kann.
Eine Anrechnung sei auch dann nicht ausgeschlossen, wenn zivilrechtlich kein oder nur ein geringerer Unterhaltsanspruch besteht. Maßgebend seien nicht möglicherweise bestehende Rechtsansprüche, sondern die faktischen wirtschaftlichen Verhältnisse der Hilfebedürftigen, also das tatsächliche Wirtschaften „aus einem Topf“.
Entscheidung genügt verfassungsrechtlichen Anforderungen
Das BVerfG ist der Auffassung, dass die Entscheidung des Bundessozialgerichts und die Regelungen zu den Grundsicherungsleistungen in einer Zwei-Personen-Bedarfsgemeinschaft erwachsener Kinder mit einem Elternteil den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Es begründet diese Auffassung folgendermaßen:
Menschenwürdiges Existenzminimum nicht unterschritten
Der Gesamtbetrag der Leistungen, die für die Existenzsicherung des Beschwerdeführers anerkannt wurden, unterschreite das zu gewährleistende menschenwürdige Existenzminimum nicht. Zwar seien dem Beschwerdeführer nur Leistungen in verminderter Höhe bewilligt worden. Dies folge jedoch aus der teilweisen Anrechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente des Vaters, weil der Gesetzgeber mit den angegriffenen Regelungen unterstelle, dass sein Bedarf durch entsprechende Zuwendungen des Vaters gedeckt sei. Der Vater verfüge jedenfalls über hinreichende Mittel, um zur Existenzsicherung seines Sohnes beizutragen.
Kürzung um 20% nicht zu beanstanden
Die der Existenzsicherung des Beschwerdeführers dienenden Leistungen ließen sich zudem in ihrer Gesamthöhe nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründen. Es sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, zur Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz anerkannte Sozialleistungen in Orientierung an der Bedürftigkeit der Betroffenen pauschal um Einsparungen zu kürzen, die im familiären häuslichen Zusammenleben typisch seien. Insbesondere sei hinreichend plausibel, dass jedenfalls in einem Haushalt zusammenlebende Familienangehörige umfassend „aus einem Topf“ wirtschaften.
Die Annahme, das Hinzutreten eines weiteren Erwachsenen zu einer Bedarfsgemeinschaft führe zu einer regelbedarfsrelevanten Einsparung von 20 %, könne sich zumindest für die Zwei-Personen-Bedarfsgemeinschaft auf eine ausreichende empirische Grundlage stützen; sie bewege sich innerhalb des Entscheidungsspielraums des Gesetzgebers. Nicht zu entscheiden war im vorliegenden Verfahren, so das BVerfG, ob und gegebenenfalls ab welcher Anzahl hinzutretender Personen eine Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums nicht mehr gewährleistet ist, wenn für jede dieser weiteren Personen eine um 20 % geringere Regelleistung berechnet werde.
Es sei verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, die Leistungen in einer Bedarfsgemeinschaft aus einem Elternteil und einem erwachsenen Kind ungleich zu verteilen. Es erscheine hinreichend plausibel, wenn der Gesetzgeber davon ausgeht, dass Eltern in häuslicher Gemeinschaft auch mit einem erwachsenen Kind regelmäßig den überwiegenden Teil der Kosten tragen und auf Abrechnungen verzichten.
Gesetzgeber gehe von familiärer Unterstützung aus
Mit der Anrechnung des elterlichen Einkommens werde der grundgesetzlich garantierte gesetzliche Anspruch des Beschwerdeführers auf Existenzsicherung nicht beseitigt. Stattdessen werde nur die Höhe des individuellen Leistungsanspruchs gegen den Träger der Grundsicherung in Anknüpfung an die tatsächlichen Umstände beschränkt. Der Gesetzgeber gehe plausibel davon aus, dass die Existenzsicherung nur in dem Umfang erforderlich ist, in dem sie nicht durch Mitglieder einer häuslichen und familiären Gemeinschaft erfolgt. Er dürfe sich daher von der Annahme leiten lassen, dass eine verwandtschaftliche Bindung zwischen Eltern und Kindern grundsätzlich so eng ist, dass ein gegenseitiges Einstehen erwartet werden kann und regelmäßig „aus einem Topf“ gewirtschaftet wird.
Weigerten sich Eltern aber ernsthaft, für ihre nicht unterhaltsberechtigten Kinder einzustehen, fehle es schon an einem gemeinsamen Haushalt und damit auch an der Voraussetzung einer Bedarfsgemeinschaft. Eine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen scheide dann aus; ein Auszug aus der elterlichen Wohnung müsse dann ohne nachteilige Folgen für den Grundsicherungsanspruch möglich sein.
Entscheidung mit Anforderungen des Gleichheitssatzes vereinbar
Das BVerfG sieht zudem die unterschiedliche Ausgestaltung der Leistungen zur Existenzsicherung
- für unter- und über 25-jährige Kinder in Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern oder einem Elternteil
- zwischen im elterlichen Haushalt lebenden volljährigen Kindern in den Leistungssystemen des Zweiten Buches und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
mit den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.
Kinder bis zum 25. Lebensjahr sind Teil der Bedarfsgemeinschaft
Der Gesetzgeber beziehe erwachsene Kinder bis zum 25. Lebensjahr in die Bedarfsgemeinschaft ein. Damit verfolge er das legitime Ziel, Ansprüche auf Sozialleistungen in Schonung der Solidargemeinschaft an der konkreten Bedürftigkeit der leistungsberechtigten Personen auszurichten. Dafür sei die Orientierung am Zusammenleben und am Lebensalter geeignet. Die Annahme, dass zusammenlebende Eltern und Kinder über das 18. Lebensjahr hinaus „aus einem Topf“ wirtschafteten, sei nämlich durchaus plausibel.
Die Ungleichbehandlung zwischen über und unter 25-jährigen Kindern im elterlichen Haushalt sei ebenso zumutbar. Komme es zu einer ernstlichen Verweigerung der Unterstützung, schieden Kinder nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahrs aus der Bedarfsgemeinschaft aus. Dies hätte zur Folge, dass ihnen die volle Regelleistung zustünde und eine Einkommensanrechnung nicht stattfinden würde; sie dürften dann ohne Anspruchsverluste ausziehen.
Unterschiede zwischen den Leistungssystemen rechtfertigen Anrechnungsregeln
Die Unterschiede zwischen den Leistungssystemen genügten, um ihre unterschiedlichen Anrechnungsregeln sachlich zu rechtfertigen. Das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch erfasse Hilfebedürftige, die entweder vorübergehend oder dauerhaft voll erwerbsgemindert sind. Deren Möglichkeiten, sich selbst zu unterhalten, seien demnach deutlich eingeschränkt. Demgegenüber ziele das Zweite Buch Sozialgesetzbuch auf Bedürftige, die ihren Lebensunterhalt grundsätzlich selbst sichern könnten. Die Leistungen zur Existenzsicherung würden vorübergehend gewährt und sie würden durch Leistungen zur Vermittlung in Arbeit ergänzt.
Quelle: Pressemitteilung Nr. 60/2016 des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 2016