EuGH, Urteil in der Rechtssache C-490/20 (V.M.A. ./. Stolichna Obsthina, Rayon „Pancharevo“)
Bulgarien muss einem Kind, das laut spanischer Geburtsurkunde zwei Mütter hat, ein Ausweis- oder Reisedokument ausstellen. Dies hat der EuGH mit heutigem Urteil in der Rechtssache C-490/20 (V.M.A. ./. Stolichna Obsthina, Rayon „Pancharevo“) entschieden. Ein Mitgliedstaat der EU sei verpflichtet, das aus dem Aufnahmemitgliedstaat stammende Dokument anzuerkennen, das es dem Kind ermöglicht, sich im Gebiet der Union frei zu bewegen und aufzuhalten. Zu diesem Schluss kam auch Generalanwältin Juliane Kokott in ihren Schlussanträgen zur Rechtssache im April.
Keine Ehe für alle in Bulgarien
Der Rechtsstreit betrifft zwei verheiratete Frauen, von denen die eine, V.M.A., bulgarische Staatsangehörige ist und die andere die Staatsangehörigkeit des Vereinigten Königreichs besitzt. Sie haben in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat Spanien ein Kind bekommen. In der von den spanischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunde werden beide Frauen als „Mütter“ des Kindes bezeichnet.
V.M.A. beantragte daraufhin bei der zuständigen bulgarischen Behörde die Ausstellung einer Geburtsurkunde für ihre Tochter – ein Dokument, das für die Ausstellung eines bulgarischen Ausweises notwendig ist – wobei sie beide Frauen als Eltern angab. Die Gemeinde Sofia (Bulgarien) verlangte von ihr jedoch die Angabe, welche der beiden Ehefrauen die leibliche Mutter sei, und wies darauf hin, dass die bulgarische Mustergeburtsurkunde nur ein Feld für die „Mutter“ und ein weiteres für den „Vater“ vorsehe, und dass jedes dieser Felder nur einen Namen enthalten könne. Da V.M.A. diese Information nicht preisgab, lehnte die Behörde ihren Antrag ab.
Die Ablehnung begründete die Gemeinde Sofia damit, dass keine Angaben bezüglich der leiblichen Mutter vorlägen. Außerdem verstoße die Eintragung von zwei Eltern weiblichen Geschlechts in einer Geburtsurkunde gegen die öffentliche Ordnung, da Bulgarien keine Ehen zwischen Personen gleichen Geschlechts erlaube. Gegen diese Entscheidung erhob V.M.A. Klage beim Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia). Dieses Gericht wollte daraufhin vom Gerichtshof wissen, ob die Weigerung der nationalen Behörden, ein bulgarisches Kind einzutragen, dessen Geburt durch eine Geburtsurkunde bescheinigt wird, die ein anderer Mitgliedstaat ausgestellt hat und in der zwei Mütter eingetragen sind, gegen das Unionsrecht verstößt.
In Spanien festgestelltes Abstammungsverhältnis muss anerkannt werden
Der Gerichtshof weist in der Urteilsbegründung zunächst darauf hin, dass die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 2004/387 verpflichtet sind, ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen, der ihre Staatsangehörigkeit angibt. Nur dadurch sei gewährleistet, dass den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die Ausübung des jedem Unionsbürger durch Art. 21 Abs. 1 AEUV zuerkannten Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, möglich sei.
Da die spanischen Behörden ein biologisches oder rechtliches Abstammungsverhältnis zwischen S.D.K.A. und ihren beiden Elternteilen rechtmäßig festgestellt haben, das in der für das Kind ausgestellten Geburtsurkunde bescheinigt wurde, müsse V.M.A. und K.D.K. in Anwendung von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 als Eltern eines minderjährigen Unionsbürgers, für den sie tatsächlich sorgen, von allen Mitgliedstaaten das Recht zuerkannt werden, sich bei diesem aufzuhalten, wenn er seine Rechte ausübt.
Hieraus ergebe sich zum einen, dass die Mitgliedstaaten dieses Abstammungsverhältnis anerkennen müssen, um es S.D.K.A. zu ermöglichen, ihr Recht auf Freizügigkeit mit jedem ihrer Elternteile auszuüben. Zum anderen müssten die beiden Elternteile über ein Dokument verfügen, das sie zur Reise mit diesem Kind berechtigt. Die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats seien am besten in der Lage, ein solches Dokument auszustellen, das aus der Geburtsurkunde bestehen kann; die übrigen Mitgliedstaaten seien zur Anerkennung dieses Dokuments verpflichtet.
Pflicht zur Achtung des Unionsrechts
Zwar fällt das Personenstandsrecht in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, denen es freisteht, in ihrem nationalen Recht für Personen gleichen Geschlechts die Ehe oder die Elternschaft vorzusehen oder nicht vorzusehen. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit haben die Mitgliedstaaten jedoch die Pflicht, das Unionsrecht, insbesondere die Bestimmungen des Vertrags über die Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit der Unionsbürger, zu beachten.
Im vorliegenden Fall widerspreche diese Pflicht weder der nationalen Identität noch der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats. Sie bedeute nämlich nicht, dass der Mitgliedsstaat die Geburtsurkunde zu anderen Zwecken als der Ausübung der diesem Kind aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte anerkennen müsse.
Schließlich könne eine nationale Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der Personenfreizügigkeit zu beschränken, nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie mit den durch die Charta verbürgten Grundrechten vereinbar ist. Es verstoße jedoch gegen die durch die Art. 7 und 24 der Charta gewährleisteten Rechte, dem Kind die Beziehung zu einem seiner Elternteile bei der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit vorzuenthalten oder die Ausübung dieses Rechts unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren, weil seine Eltern gleichen Geschlechts sind.
Eine ausführlichere Urteilsbegründung finden Sie in der Pressemitteilung Nr. 221/21 des Gerichtshofes der Europäischen Union v. 14.12.2021. Das vollständige Urteil (Bulgarisch/Französisch) ist auf der CURIA-Website einsehbar. Eine Anmerkung dazu wird demnächst in der FamRZ veröffentlicht.