Sammelung von Rechtssprechungen in Bücher im Regal

Automatische Anerkennung italienischer Privatscheidungen in Europa

EuGH, Urteil v. 15. 11.2022 – Rs. C-646/20

Eine von einem Standesbeamten des Ursprungsmitgliedstaats errichtete Scheidungsurkunde,

  • die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält,
  • die von ihnen vor dem Standesbeamten bestätigt wurde,
  • in Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für eine Scheidung,

ist eine "Entscheidung" im Sinne der Brüssel IIa-VO. Dies hat die Große Kammer des EuGH in einer ihrer seltenen Entscheidungen am Dienstag bestätigt, was die Bedeutung der Entscheidung unterstreicht.

 

Ehe in Deutschland geschlossen, in Italien geschieden

Frau TB besitzt die deutsche und die italienische Staatsangehörigkeit. Sie heiratete 2013 in Berlin standesamtlich Herrn RD, einen italienischen Staatsangehörigen. Das Standesamt in Berlin beurkundete diese Eheschließung im Eheregister. Die Ehe wurde 2017 vor dem Standesbeamten in Parma (Italien) auf der Grundlage von Art. 12 des italienischen Decreto legge Nr. 132/2014 aufgelöst. Frau TB beantragte daraufhin beim Standesamt in Berlin, diese Scheidung im Eheregister zu beurkunden. Das Standesamt legte die Sache dem Amtsgericht zur Entscheidung vor, welches entschied, dass für die Beurkundung der Scheidung im Eheregister ihre Anerkennung nach dem Verfahren des § 107 Abs. 1 S. 1 FamFG erforderlich sei.

Gegen den Beschluss hat Frau TB Beschwerde beim Kammergericht eingelegt. Dieses gab der Beschwerde statt und wies das Standesamt in Berlin an, die Scheidung ohne weiteres Verfahren im Eheregister zu beurkunden. Gegen die Entscheidung des KG (Beschluss v. 28.4.2022 - 1 VA 2/22) hat die Senatsverwaltung für Inneres und Sport, die für die Aufsicht über die Standesämter zuständige Behörde, Rechtsbeschwerde zum BGH eingelegt.

 

BGH: handelt es sich um eine Privatscheidung?

Der BGH neigte der Auffassung zu, dass es sich bei der in Italien ausgesprochenen Scheidung um eine Privatscheidung handele, die nicht in den Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO falle. Er hatte dem Gerichtshof zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (FamRZ 2021, 119, m. Anm. Claudia Mayer {FamRZ-digital | FamRZ bei juris}, und Anm. Bargelli, FamRZ 2021, 214 {FamRZ-digital | FamRZ bei juris}). Unter anderem wollte der Senat wissen, ob die Brüssel IIa-VO die Mitgliedstaaten verpflichtet, eine bei einer Eheauflösung auf der Grundlage von Art. 12 des italienischen Decreto legge Nr. 132/2014 erlassene Scheidungsentscheidung ohne weitere Voraussetzungen anzuerkennen.

 

Eine „Entscheidung“ im Sinne der Brüssel IIa-VO

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass der Begriff „Entscheidung“, auf den die Verordnung Bezug nimmt, jede Entscheidung über die Ehescheidung umfasst, die im Anschluss an ein gerichtliches oder außergerichtliches Verfahren ergeht – sofern das jeweilige Recht der Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für die Ehescheidung auch diesen Stellen überträgt. Jede solche Entscheidung sei deshalb automatisch anzuerkennen, wenn die in der Brüssel IIa-VO formulierten Voraussetzungen erfüllt sind.

Der Gerichtshof erinnert an seine Rechtsprechung, wonach die Brüssel-IIa-Verordnung nur für Scheidungen gilt, die entweder von einem nationalen Gericht oder von einer Behörde, bzw. unter der Aufsicht einer Behörde, ausgesprochen werden. Reine Privatscheidungen fallen also nicht unter die Brüssel IIa-VO. Daraus leitet der Gerichtshof ab, dass jede Behörde, die eine "Entscheidung" zu erlassen hat, die Kontrolle über den Ausspruch der Scheidung behalten muss. Bei einvernehmlichen Ehescheidungen bedeutet das, dass die Scheidung mit nationalem Recht vereinbar sein muss. Es muss außerdem geprüft werden, ob das Einvernehmen beider Ehegatten tatsächlich vorliegt und das Einverständnis gültig ist.

Der Gerichtshof führt aus, dass dieses Prüfungserfordernis auch das Kriterium ist, das eine Unterscheidung zwischen dem Begriff „Entscheidung“ („judgment) und den Begriffen „öffentliche Urkunde“ („authentic instrument“) bzw. „Vereinbarung zwischen den Parteien“ („agreement between the parties“), die ebenfalls in der Brüssel-IIa-Verordnung vorkommen, darstellt. Die Regelungen für Entscheidungen ebenso wie für öffentliche Urkunden und Parteivereinbarungen seien mit der Brüssel-IIb-Verordnung übernommen und präzisiert worden.

In Bezug auf den vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass der italienische Standesbeamte als gesetzlich festgelegte Behörde zuständig ist, die Scheidung rechtskräftig auszusprechen, indem er die von den Ehegatten aufgesetzte Scheidungsvereinbarung nach einer Prüfung in Schriftform beurkundet. Der Standesbeamte

  • vergewissert sich nämlich, dass das Einvernehmen der Ehegatten zur Scheidung gültig, aus freien Stücken und in Kenntnis der Sachlage erteilt wird,
  • er prüft auch den Inhalt der Ehescheidungsvereinbarung anhand der geltenden Rechtsvorschriften,
  • vergewissert sich, dass sich die Vereinbarung nur auf die Auflösung der Ehe oder die Beendigung der zivilen Wirkungen der Ehe bezieht und weder Vermögenswerte übertragen werden noch andere als volljährige wirtschaftlich unabhängige Kinder betroffen sind.

Im vorliegenden Fall handele es sich demnach um eine „Entscheidung" im Sinne der Brüssel-IIa-Verordnung. Diese muss daher von den deutschen Behörden automatisch anerkannt werden.

Der Volltext der Entscheidung mit einer Anmerkung von Anatol Dutta erscheint in FamRZ 2023, Heft 1 (wird am 1.1.2023 veröffentlicht).

Quelle: Pressemitteilung Nr. 183/22 des Gerichtshofes der Europäischen Union

Zurück