Schweizerisches Bundesgericht, Urteil v. 8.6.2023 – 5A_391/2021
Die in Deutschland von einer Person schweizerischer Nationalität erlangte Streichung der Geschlechtsangabe wird in der Schweiz nicht anerkannt und kann nicht ins schweizerische Personenstandsregister eingetragen werden. Dies hat das Schweizerische Bundesgericht am 8.6.2023 entschieden (Az.: 5A_391/2021). Nach dem klaren Willen des Gesetzgebers gelte einstweilen weiter die binäre rechtliche Geschlechterordnung (Mann/Frau). Das Bundesgericht sei aufgrund der Gewaltenteilung nicht befugt, davon abzuweichen. Der Verzicht auf einen Geschlechtseintrag sei unzulässig.
Streichung des Geschlechtseintrags in Deutschland
Eine in Deutschland lebende Person schweizerischer Nationalität erklärte 2019 in Berlin gestützt auf deutsches Recht die Streichung der Geschlechtsangabe. Das zuständige Standesamt beurkundete die Erklärung. Die Person ersuchte in der Folge in der Schweiz um Anerkennung der in Deutschland vorgenommenen Streichung des Geschlechtseintrages. Das Departement für Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau lehnte die Nachbeurkundung und Anerkennung ab. Das Obergericht des Kantons Aargau hieß die Beschwerde der betroffenen Person 2021 gut und ordnete die Streichung der Geschlechtsangabe im schweizerischen Personenstands- und Geburtsregister an. Das Bundesgericht heißt an seiner öffentlichen Beratung vom 8.6.2023 die Beschwerde des Bundesamtes für Justiz gut und hebt den Entscheid des Aargauer Obergerichts auf.
Verzicht auf eine Geschlechtsangabe in der Schweiz weiterhin unzulässig
Die Streichung der Geschlechtsangabe im schweizerischen Personenstandsregister ist mit Bundesrecht nicht vereinbar, so das Bundesgericht. Gemäß dem Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG) werde das Geschlecht bei einer im Ausland erfolgten Änderung nach den schweizerischen Grundsätzen über die Registerführung in die Zivilstandsregister eingetragen. Das Geschlecht sei eines der Elemente des Personenstandes, welche im Zivilgesetzbuch (ZGB) geregelt werden. Die Angabe gehöre zu den schweizerischen Grundsätzen über die Registerführung.
Anfang 2022 trat Artikel 30b ZGB zur Änderung des Geschlechts im Personenstandsregister in Kraft. Laut den parlamentarischen Beratungen dazu sollte einstweilen die geltende binäre Geschlechterordnung (männlich und weiblich) beibehalten werden und der Verzicht auf eine Geschlechtsangabe unzulässig bleiben. Eine Änderung sollte den eidgenössischen Räten in einer späteren entscheidenden Diskussion vorbehalten bleiben. Gleichzeitig wurde im internationalen Verhältnis mit der Einführung von Artikel 40a IPRG die Anerkennung eines dritten Geschlechts oder der Verzicht auf eine Geschlechtsangabe im Zivilstandsregister ausdrücklich nicht beabsichtigt.
Bundesgericht muss Bundesgesetze anwenden
Das Bundesgericht könne aus Gründen der Gewaltenteilung nicht von diesem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers abweichen und ist aufgrund von Artikel 190 der Bundesverfassung zur Anwendung von Bundesgesetzen verpflichtet. Es wäre Sache des Gesetzgebers, die rechtliche Regelung zu ändern. Ob die Anerkennung eines Verzichts auf die Geschlechtsangabe mit dem schweizerischen Ordre Public vereinbar wäre, könne unter diesen Voraussetzungen offenbleiben.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bezüglich eines Verzichts auf die Geschlechtsangabe eine Verletzung staatlicher Handlungspflichten zur Gewährleistung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention) verneint. Der EuGHMR weist darauf hin, dass angesichts der Lage betroffener Personen die Notwendigkeit angemessener gesetzlicher Maßnahmen ständig zu überprüfen ist, insbesondere unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Entwicklung.
Quelle: Pressemitteilung des Bundesgerichts v. 8.6.2023