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Rechtliche Anerkennung des Geschlechts in Europa

Bericht des Europarats veröffentlicht

Am 7.7.2022 veröffentlichte der Europarat einen Bericht, in dem die Fortschritte der europäischen Länder bei der vollständigen rechtlichen Anerkennung des Geschlechts („legal gender recognition“ oder LGR) in allen Lebensbereichen untersucht werden. Der Bericht lobt Fortschritte in der Gesetzgebung, in der Praxis und in der öffentlichen Einstellung. Gleichwohl seien aber noch zusätzliche Schritte erforderlich, um unter anderem

  • die rechtliche Geschlechtsanerkennung zu "entpathologisieren",
  • Familienangehörige der betroffenen Personen nicht zu benachteiligen,
  • die Interessen der Kinder gebührend zu berücksichtigen.

Dies ist der erste thematische Bericht über die Umsetzung der Empfehlung CM/Rec(2010)5 über Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität, der sich auf den spezifischen Aspekt der rechtlichen Anerkennung des Geschlechts der Empfehlung konzentriert.

 

Große Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten

Obwohl die Unterstützung für die Rechte von LGBTI-Personen, einschließlich des Konzepts der rechtlichen Geschlechtsanerkennung, in Europa fest verankert ist, gibt es dem Bericht zufolge erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern. Achtunddreißig Mitgliedstaaten des Europarats verfügen über ein gesetzliches oder administratives Verfahren zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechts, neun von ihnen haben ein Selbstbestimmungssystem.

In einigen Ländern gebe es jedoch kein klares Verfahren, und andere hätten den bestehenden Schutz zurückgeschraubt, indem sie die Anerkennung des rechtlichen Geschlechts unmöglich gemacht haben. Für einige Transgender, Intersexuelle und geschlechtlich heterogene Menschen bedeutet dies, so heißt es im Bericht, dass sie offizielle Dokumente besitzen, die nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmen. Dies mache sie anfälliger für Diskriminierung und Gewalt.

 

Entpathologisierung von LGR-Verfahren notwendig

Ein weiteres Problem sei der zunehmende Widerstand gegen die Menschenrechte von Transgender-Personen in einigen Ländern, der mit einem Mangel an öffentlichen Informationen über ihre Situation einhergeht. Sechsundzwanzig Mitgliedstaaten des Europarats verlangen immer noch eine medizinische Diagnose als Vorbedingung für eine rechtliche Anerkennung des Geschlechts. 13 Mitgliedstaaten verlangen immer noch eine Sterilisation, was im Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGHMR steht.

Auch bei der Behandlung anderer Fragen, wie etwa der Sicherstellung, dass Transgender nicht als psychische Krankheit eingestuft wird, gebe es nur begrenzte Fortschritte. Der Bericht empfiehlt die Abschaffung von Sterilisationen oder anderen medizinischen Zwangsbehandlungen als Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung des Geschlechts. Die Mitgliedstaaten sollten außerdem umfassende Diskussionen fördern, um besser zu verstehen, was die "Entpathologisierung" von LGR-Verfahren bedeutet.

 

Oft ist Scheidung Voraussetzung für Zugang zu LGR

Auch die Abschaffung des Scheidungserfordernisses aus dem LGR-Verfahren sei nicht immer der Fall: In 19 Mitgliedstaaten ist die Scheidung zumindest de facto Voraussetzung für den Zugang zum LGR. Dies ist rechtlich problematisch, da es bedeutet, dass die Rechte eines bereits rechtmäßig verheirateten Paares auf dem Spiel stehen, einschließlich des Verlustes der erworbenen Rechte für Kinder.

Gleichzeitig gibt es aber auch positive rechtliche Entwicklungen: In sechs Ländern verlangt das Gesetz nicht, dass jemand ledig ist, bevor er die rechtliche Geschlechtsanerkennung beantragt, während weitere neun Länder die Integrität bestehender Ehen respektieren und die Eheurkunden entsprechend aktualisieren. Die Empfehlung des Berichts lautet, dass die Mitgliedstaaten ihre zivilrechtlichen Voraussetzungen für die Anerkennung des Geschlechts prüfen sollten, um sicherzustellen, dass diese Voraussetzungen die erworbenen Rechte der Ehegatten und Kinder nicht beeinträchtigen.

 

Zugang zu LGR für Kinder und Jugendliche

Was den Zugang zu LGR für Kinder und Jugendliche angeht, so ist dieser in 17 Mitgliedstaaten des Europarats der Fall. In vielen Mitgliedstaaten gibt es Diskussionen über die Überprüfung von Altersgrenzen, insbesondere wenn diese Grenzen dazu führen, dass junge Transgender-Personen mit Ablehnung, Ausgrenzung oder anderen Problemen in ihrem Alltag konfrontiert werden; in diesen Diskussionen wird der Schwerpunkt auf die Reife des Kindes/Jugendlichen gelegt. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die LGR-Verfahren für Kinder auf dem Grundsatz des Kindeswohls beruhen, und sie sollten explizite oder implizite Altersbeschränkungen entsprechend überprüfen, empfiehlt der Bericht.

Um die Erfahrungen einiger Mitgliedsstaaten des Europarates mit dem LGR von nicht-binären, geschlechtsspezifischen und intersexuellen Personen zu nutzen, könnten die Mitgliedsstaaten eine integrative Diskussion zu diesem Thema fördern und unter anderem die Notwendigkeit der Aufnahme von Geschlechtsmerkmalen in offizielle Ausweispapiere und andere Dokumente überprüfen, schlägt der Bericht vor.

 

Nächster thematischer Bericht für 2023 geplant

Was den Zugang zu LGR für im Land lebende Ausländer betrifft, so sollten die bestehenden Beschränkungen im Lichte der Rechtsprechung des EuGH neu bewertet werden, heißt es im Bericht. Dieser enthält auch einige allgemeine Empfehlungen: Gleichbehandlungsgesetze sollten von geeigneten politischen Maßnahmen zu ihrer Umsetzung und regelmäßigen Überprüfungen begleitet werden. Mitgliedstaaten, in denen es derzeit keine Antidiskriminierungsgesetze gibt, die speziell die Geschlechtsidentität schützen, sollten sich um deren Einführung bemühen. Motive, die mit der Geschlechtsidentität oder den Geschlechtsmerkmalen des Opfers zusammenhängen, sollten als "erschwerende Umstände" betrachtet werden.

Der Bericht wurde von einer Arbeitsgruppe des Lenkungsausschusses des Europarats für Antidiskriminierung, Vielfalt und Integration (CDADI) mit Unterstützung des Referats für sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität (SOGI) erstellt. Der nächste thematische Bericht, der im Jahr 2023 veröffentlicht werden soll, wird sich auf Hasskriminalität gegen LGBTI-Personen konzentrieren.

 

Fortschritte auch in Deutschland

In Sachen rechtliche Anerkennung des Geschlechts gibt es auch in Deutschland Neues: Bundesfamilienministerin Lisa Paus und Bundesminister der Justiz Dr. Marco Buschmann haben am 30.6. gemeinsam die Eckpunkte für das Selbstbestimmungsgesetz vorgestellt. Das Gesetz soll das Transsexuellengesetz von 1980 ablösen, das in wesentlichen Teilen verfassungswidrig ist.

Nächste Woche widmet sich Anatol Dutta dem Selbstbestimmungsgesetz im neuen FamRZ-Newsletter. Für ihn ist dieses "privatrechtlich kein großer Wurf". Sie sind noch kein Abonnent des Newsletters? Registrieren Sie sich jetzt kostenlos.

 

Quelle: Pressemitteilung des Europarats v. 7.72022

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