Sammelung von Rechtssprechungen in Bücher im Regal

Kritik an Umsetzung der EU-Vereinbarkeitsrichtlinie

Anhörung des Familienausschusses am 7.11.2022

Sachverständige bewerten die von der Bundesregierung geplante Umsetzung der EU-Vereinbarkeitsrichtlinie als nicht weitgehend genug. Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am Montagnachmittag deutlich. Es äußerten sich folgende Experten:

  • Dörthe Gatermann, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge
  • Ulrike Gebelein, Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege
  • Elke Hannack, Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)
  • Lena Hipp, Sozialwissenschaftlerin, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
  • Dag Schölper, Bundesforum Männer, dem Interessenverband für Jungen, Männer und Väter
  • Lisa Sommer, Zukunftsforum Familie
  • Kerstin Plack von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)
  • Nina Straßner, SAP-Unternehmensvertreterin

Bewertet wurde bei der Anhörung auch ein Antrag der Linksfraktion (BT-Drucks. 20/2688). Darin wird die Einführung einer 28-tägigen Freistellung von der Arbeit für den zweiten Elternteil ab Geburt des Kindes bei 100-prozentiger Entgeltfortzahlung gefordert.

 

Harmonisierung der Beschäftigten-Schwellenwerte nötig

Dörthe Gatermann bewertete die Pläne der Bundesregierung zur Umsetzung der EU-Richtlinie grundsätzlich positiv. Die Maßnahmen reichten aber nicht aus, um den wachsenden Bedarf nach Unterstützung pflegender Angehöriger zu decken. Benötigt werde unter anderem eine Harmonisierung der Schwellenwerte auf 15 Beschäftigte, befand sie. Derzeit gelten im Pflegezeitgesetz Unternehmen mit bis zu 15 Beschäftigten als Kleinbetriebe während beim Familienpflegzeitgesetz der Schwellenwert bei 25 Beschäftigten liegt.

Auch Lisa Sommer befand, dass der entsprechende Anspruch auf alle Betriebsgrößen ausgeweitet werden müsse, „sodass alle Beschäftigte Auszeiten oder eine Verringerung der Arbeitszeit für die Pflege von Angehörigen tatsächlich nutzen können“. Elke Hannack zeigte sich ebenfalls enttäuscht über das Festhalten an den Schwellenwerten für Kleinbetriebe. Der in der EU-Richtlinie vorgegebene Kündigungsschutz greife daher nicht, kritisierte sie. Hier müsse nachgebessert werden, indem die Schwellenwerte abgeschafft werden, verlangte sie.

Kerstin Plack hingegen betrachtet auch das für das Pflege- und das Familienpflegezeitgesetz vorgesehene Antragsverfahren zur Vereinbarung einer Pflegezeit oder Familienpflegezeit in Kleinbetrieben als „zu weitgehend“. Die Schwellenwerte von Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetz, sowie Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz hätten ihren Grund in der deutlich geringeren personellen wie finanziellen Belastbarkeit von kleinen und mittelständischen Unternehmen. Diese können Mitarbeiterausfälle aufgrund der dünneren Personaldecke häufig nicht durch eine Umverteilung oder Umorganisation abfangen.

 

Experten plädieren für weitergehende Regelungen zum „Vaterschaftsurlaub“

Ulrike Gebelein lobte den Gesetzentwurf, warnte aber auch, dass die Umsetzung der EU-Richtlinie dadurch nicht als abgeschlossen gelten kann. Es brauche eine mindestens zehntägige Freistellungsregelung für Väter oder den gleichgestellten zweiten Elternteil nach der Geburt. Eine Verankerung dieses Rechtsanspruches sollte im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz erfolgen.

Dag Schölper sprach mit Blick auf den Verzicht des in der Richtlinie vorgegebenen „Vaterschaftsurlaubs“ von einer „Leerstelle im Gesetzentwurf“. Diese durch die Vereinbarkeitsrichtlinie vorgesehene Leistung habe einen eigenständigen Anspruchscharakter und sei eben nicht bereits durch die aktuellen Elterngeld- und Elternzeit-Regelungen abgedeckt, sagte er. Die Einführung eines solchen neuen und eigenständigen Anspruchs jenseits der bereits bestehenden Regelungen zu Elterngeld und Elternzeit könne einen wichtigen Beitrag dazu leisten,

  • die Vater-Kind-Bindung von Anfang an zu stärken,
  • die Väterbeteiligung an der Sorgearbeit zu erhöhen,
  • die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu verbessern,
  • Müttern mehr Erwerbsperspektiven zu eröffnen.

Auch alle anderen Sachverständigen monierten die fehlende Regelung für den „Vaterschaftsurlaub“. Nur Kerstin Plack war der Ansicht, dass der Vaterschaftsurlaub richtigerweise aufgrund einer Aussetzungsklausel in Art. 20 VII der Richtlinie in Deutschland nicht umgesetzt werden müsse.

 

Berichte aus Wissenschaft und Praxis

Die Sozialwissenschaftlerin Lena Hipp schlug vor, aus den zwei Partnermonaten bei der Elternzeit vier Monate zu machen. Ihren Studien zufolge würde eine Vielzahl von Vätern diese auch wahrnehmen. Hipp ging auch auf Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt ein, unter denen Frauen mit Kindern zu leiden hätten. Elternschaft, so ihre Forderung, müsse daher als geschütztes Merkmal in das Antidiskriminierungsgesetz aufgenommen werden.

Nina Straßner berichtete aus dem Praxis eines DAX-Unternehmens: Bei SAP gibt es seit 2020 eine „Väterzeit“. Während der gesetzlichen, achtwöchigen Mutterschutzzeit nach der Geburt bestehe für länger als sechs Monate im Unternehmen beschäftigte Väter die Möglichkeit, für 20 Prozent ihrer Arbeitszeit bezahlt freigestellt zu werden, sagte sie. Das Angebot werde sehr gut angenommen. In den ersten 15 Monaten hätten mehr als 500 Väter und weniger als zehn gleichgeschlechtliche Elternpaare das Angebot in Anspruch genommen, „wobei durch die Verankerung als bezahlte Freistellung kein zusätzliches Budget aufgewendet werde musste“.

 

Quelle: Heute im Bundestag (hib) Nr. 625/2022 vom 7.11.2022

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