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Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug - litauische Notare als „Gerichte“ - Nachlasszeugnis als öffentl. Urkunden

- Entscheidungen Leitsätze

Europäischer Gerichtshof, Beschluss v. 16.7.2020 – Rs. C-80/19: E.E.

1. Die EuErbVO ist dahin auszulegen, dass ein „Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug“ vorliegt, wenn der Erblasser die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und im Zeitpunkt seines Todes seinen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatte, aber seine Verbindung zu dem erstgenannten Mitgliedstaat – in dem sich das Nachlassvermögen befindet, während die Erbberechtigten ihren Aufenthalt in diesen beiden Mitgliedstaaten haben – nicht abgebrochen hatte. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Sinne dieser Verordnung ist von der mit der Erbsache befassten Behörde in nur einem dieser Mitgliedstaaten festzulegen.
2. Art. 3 II EuErbVO ist dahin auszulegen, dass die litauischen Notare – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – keine gerichtlichen Funktionen ausüben, wenn sie ein nationales Nachlasszeugnis ausstellen. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die Notare in Ausübung einer Befugnisübertragung oder unter der Aufsicht eines Gerichts handeln und folglich als „Gerichte“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden können.
3. Art. 3 I Buchst. g EuErbVO ist dahin auszulegen, dass für den Fall, dass das vorlegende Gericht der Auffassung sein sollte, dass die litauischen Notare als „Gerichte“ im Sinne dieser Verordnung eingestuft werden können, von ihnen ausgestellte Nachlasszeugnisse als „Entscheidungen“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden können, sodass die Notare für die Ausstellung der Nachlasszeugnisse die Zuständigkeitsregeln des Kapitels II dieser Verordnung anwenden können.
4. Die Art. 4 und 59 EuErbVO sind dahin auszulegen, dass Notare eines Mitgliedstaats, die nicht als „Gerichte“ im Sinne dieser Verordnung eingestuft werden, berechtigt sind, nationale Nachlasszeugnisse ohne die Befolgung der allgemeinen Zuständigkeitsregeln dieser Verordnung auszustellen. Wenn das vorlegende Gericht der Auffassung ist, dass die nationalen Nachlasszeugnisse die Voraussetzungen nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. i EuErbVO erfüllen und daher als „öffentliche Urkunden“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden können, entfalten diese Nachlasszeugnisse in den anderen Mitgliedstaaten die Wirkungen, die Art. 59 I und Art. 60 I EuErbVO den öffentlichen Urkunden verleihen.
5. Die Art. 4, 5, 7 und 22 sowie Art. 83 II und IV EuErbVO sind dahin auszulegen, dass aufgrund des Willens des Erblassers und der Vereinbarung zwischen seinen Erbberechtigten ein in Erbsachen zuständiges Gericht bestimmt und ein Erbrecht eines Mitgliedstaats angewandt werden kann, die sich von denjenigen unterscheiden, die sich aus der Anwendung der in dieser Verordnung aufgestellten Kriterien ergeben würden.

Anm. d. Red.: Die Entscheidung wird veröffentlicht in FamRZ 2020, Heft 18.

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