Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil in der Rechtssache C-294/15
Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass das Unionsrecht auf ein Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe anwendbar ist – auch wenn dies von einem Dritten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetzt wurde. Dieser könne sich dann aber nur auf manche der unionsrechtlich vorgesehenen Zuständigkeitsgrundlagen stützen.
Erbin fordert Ungültigerklärung wegen Bigamie
Im Jahr 2012 erhob Edyta Mikołajczyk bei einem polnischen Gericht eine Klage auf Ungültigerklärung der im Jahr 1956 in Frankreich zwischen dem bereits verstorbenen Stefan Czarnecki und Marie Louise Czarnecka geschlossenen Ehe. Sie brachte dazu vor, die testamentarische Erbin der am 15. Juni 1999 verstorbenen ersten Ehegattin von Stefan Czarnecki, Zdzisława Czarnecka, zu sein. Nach Ansicht der Klägerin bestand die 1937 in Polen zwischen Stefan Czarnecki und Zdzisława Czarnecka geschlossene Ehe zum Zeitpunkt der Eheschließung zwischen Stefan Czarnecki und Marie Louise Czarnecka noch. Bei der zuletzt genannten Ehe handele es sich daher um eine bigamische Verbindung, die aus diesem Grund für ungültig erklärt werden müsse.
Die Beklagte Marie Louise Czarnecka beantragte ihrerseits, die Eheungültigkeitsklage wegen Unzuständigkeit der polnischen Gerichte als unzulässig abzuweisen. Ihrer Auffassung nach hätte diese Klage vor einem französischen Gericht erhoben werden müssen.
Berufungsgericht Warschau ersuchte Gerichtshof um Klärung
Nach polnischem Recht kann jeder die Ungültigerklärung der Ehe wegen des Weiterbestehens einer früheren Ehe eines der Ehegatten fordern, der daran ein rechtliches Interesse hat. Der im Rechtsmittelweg angerufene Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) ersuchte den Gerichtshof der Europäischen Union um Klärung.
Zum einen solle entschieden werden, ob die Unionsverordnung über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung auf Verfahren über die Ungültigerklärung einer Ehe anwendbar sei, die von einer anderen Person als einem der Ehegatten nach dem Tod eines der Ehegatten in Gang gesetzt wurden. Zum anderen solle geklärt werden, ob eine solche Person sich auf die in der zitierten Verordnungsbestimmung vorgesehenen Zuständigkeitsgrundlagen stützen könne.
Das Urteil des europäischen Gerichtshofs
Anwendbarkeit der Unionsverordnung
Der Gerichtshof entschied am 13. Oktober 2016 betreffend die Anwendbarkeit der Verordnung, dass diese zu den Gegenständen, die in ihren Anwendungsbereich fallen, die Ungültigerklärung einer Ehe zählt; und zwar ohne nach dem Zeitpunkt der Einleitung eines solchen Verfahrens in Bezug auf den Tod eines der Ehegatten oder nach der Identität der zur Ingangsetzung eines solchen Gerichtsverfahrens befugten Person zu differenzieren.
Gleiches gelte für ein von einem Dritten nach dem Tod eines
der Ehegatten in Gang gesetztes Eheungültigkeitsverfahren. Der Gerichtshof sieht
eine solche Auslegung auch durch das mit der Verordnung verfolgte Ziel
bestätigt, zur Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts beizutragen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet sei. Ein
Ausschluss eines Eheungültigkeitsverfahrens vom Anwendungsbereich der
Verordnung könne die in diesem Bereich wegen des Fehlens eines einheitlichen
Regelungsrahmens verbundene Rechtsunsicherheit verstärken. Nur weil sich eine Ungültigkeitsklage gegen eine durch den
Tod eines der Ehegatten bereits aufgelöste Ehe richtet, so der Gerichtshof schließlich, bedeutet
dies nicht, dass diese Klage nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt.
Zuständigkeit für die Entscheidung
Die Bestimmungen der Unionsverordnung, so der Gerichtshof, verleihen den Gerichten des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, unter bestimmten Bedingungen die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Auflösung einer Ehe. In diesem Zusammenhang erinnerte der Gerichtshof daran, dass die von der Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln
- auf die Wahrung der Interessen der Ehegatten
- auf die Rücksichtnahme auf die Freizügigkeit der Personen
- auf den Schutz der Rechte des Ehegatten, der den Staat des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts verlassen hat,
gerichtet sind. Ein von einem Dritten in Gang gesetztes Eheungültigkeitsverfahren falle daher zwar in den Anwendungsbereich der Verordnung, dieser Dritte müsse aber an die zugunsten der Ehegatten festgelegten Zuständigkeitsregeln gebunden bleiben. Folglich erfasse der Begriff des „Antragstellers“ im Sinne der Verordnung keine anderen Personen als die Ehegatten, sodass Dritte sich nicht auf die in der Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitsgrundlagen stützen könnten.
Quelle: Pressemitteilung Nr. 111/16 des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 13. Oktober 2016
Volltext: Urteil in der Rechtssache C-294/15 zur Einsicht auf der Website curia.europe.eu